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Der 25.11.2019 ist internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen. Was das mit Wein zu tun hat? Ziemlich viel sogar. Ein Versuch, das alles in einen Blogpost zu packen.

Neulich in NYC

Vor ein paar Wochen hat #metoo in der High-End-Weinwelt mit vollem Karacho eingeschlagen, als die New York Times einen Artikel veröffentlichte, in dem vier Betroffene massive Vorwürfe sexueller Übergriffe gegen einen Darling, einen Up & Coming-Star der US-Sommelier-Szene erhoben. Diesem Artikel gingen Monate der Recherche und Vorbereitung voraus: Im September dieses Jahres hatte die Weinjournalistin Marissa A. Ross auf ihrem Instagram-Kanal dazu aufgerufen, sich bei ihr zu melden, wenn man von Übergriffen durch besagten Sommelier betroffen war und darüber sprechen wollte. Sie selbst war vor einigen Jahren einem Übergriff durch ebenjenen Sommelier-Liebling ausgesetzt gewesen und hatte munkeln gehört, dass sie nicht die Einzige sei. Seit 2016 thematisiert Ross regelmäßig sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt in der Weinwelt auf ihren Social-Media-Kanälen und zeigte sich stets solidarisch, was erklärt, dass sich innerhalb kürzester Zeit vier Frauen meldeten, die ebenfalls von Übergriffen durch besagten Sommelier betroffen waren. Außerdem erreichten sie Nachrichten von Dutzenden anderer von sexueller Belästigung und Gewalt in der Weinwelt betroffenen Frauen. Es entstand ein Kontakt zwischen Julia Moskin, Journalistin bei der New York Times, und Marissa A. Ross, die wiederum die Betroffenen mit Julia Moskin in Verbindung setzte.

Strukturen ermöglichen Übergriffe

So viel zum Hintergrund. Mich überrascht das – leider – wenig. Aus meinem Studium (Rechtswissenschaften, Gender Studies) und meinem täglichen Brotberuf (ich arbeite als Juristin im Antidiskriminierungsrecht) weiß ich, welche patriarchalen Strukturen sexuelle Belästigung und sexuelle Gewalt wahrscheinlich machen: Etwa der um einzelne Personen betriebene Personenkult und die damit einhergehende Machtposition dieser einzelnen Person. Die Tatsache, dass jüngere, unerfahrene oder in der Hierarchie schwächere Personen in ihrer Position in einem absoluten Ungleichgewicht bzw. einer Art Abhängigkeitsverhältnis zur Person in der Machtposition stehen. Die Verwischung der Grenzen zwischen Beruf- und Privatleben. Und ganz banal: Stressige Arbeitsbedingungen.

Besonderheiten in der Weinwelt

Übertragen auf die Weinwelt heißt das etwa, dass um bestimmte Sommeliers oder etablierte Weinjournalisten ein Wirbel gemacht wird und sie aus der Masse auf eine Art und Weise hervorgehoben werden, wie – jetzt kommt eine österreichische Analogie – Spitzen-Schisportler_innen aus der Masse an Schisportler_innen (ihr erinnert euch an #metoo im Spitzensport? Dort herrschen ganz ähnliche Strukturen.). Jüngere Sommeliers und Sommelières, Weinhändler_innen oder Weinjournalist_innen stehen diesen Top of the Tops in einer Schieflage gegenüber.

Consider who’s filling your glass: Maybe it’s the buyer you need to make happy so he takes an extra case. Or the boss you need to have another round with for a chance at a promotion. Or your favorite winemaker who begged you to stay at the table to keep him company.” 

Marissa A. Ross, To Make the Wine Industry Less Toxic, We Need to Get Loud, ba magazine, 5.11.2019

Und die Grenzen zwischen Beruf und Privatem verschwimmen – Sommeliers und Sommelières arbeiten spät, und wenn sie dann nach der Arbeit noch entspannen, bleiben – so wie in der Gastro wohl generell – lediglich die Arbeitskolleg_innen übrig, alle Menschen mit 9-5-Jobs sind zu Zeiten, wo Sommeliers und Sommelières Freizeit haben, schon längst in der Hapfn (wer mehr über den Arbeitsalltag von Sommeliers und Sommelières erfahren möchte, dem_der empfehle ich das fantastische, aufschlussreiche und überaus unterhaltsame Buch „Cork Dork“ von Bianca Bosker!). Diese Verwischung gibt es etwa auch in der Opern- und Theaterbranche, da auch hier ähnlich späte Arbeitszeiten herrschen und noch dazu das Zurschaustellen der eigenen Körperlichkeit und auch das Eindringen in die Privatsphäre Teil des Berufs zumindest von Schauspieler_innen ist – gekoppelt an einen Personenkult rund um (meist männliche) künstlerische „Genies“ ist gerade diese Branche sehr anfällig für sexuelle Übergriffe (nicht umsonst wurde #metoo in Hollywood losgetreten – in Österreich spielte #metoo zuletzt in der Affäre rund um den ehemaligen Burgtheater-Direktor Matthias Hartmann oder die Tiroler Festspiele Erl eine Rolle). Naja, und unter diesen Umständen ist bald nicht mehr klar – trinken wir jetzt hier als Kolleg_innen die Flasche aus? Oder als Freund_innen, als Bekannte, als potentielle Liebhaber_innen?

Alkohol – der flüssige Dritte

Als ich dann den Artikel von Marissa A. Ross im Bon Appétit Magazine-Ableger Healthy-Ish “To Make The Wine Industry Less Toxic, We Need To Get Loud” gelesen habe, in der sie von der Rolle des Alkohol spricht, habe ich innerlich gerufen: JA, LOGISCH!! Alkohol ist in der Weinwelt nicht nur „part of the game“, es ist das Game. Wein ist Beruf, ist Berufung, ist immer mit dabei, ist quasi der flüssige Dritte.

Dass bei einem Schwips oder Rausch die Hemmungen, die Grenzen der anderen Person auszutesten oder zu überschreiten, auf der einen und die Möglichkeiten, sich zu wehren, auf der anderen Seite, heruntergesetzt sind, muss ich wohl nicht extra ausführen. Weniger oder nix trinken also? Naja. Wer wenig oder nichts trinken möchte, wird gerade in der Weinwelt regelmäßig auf Unverständnis oder gar Widerstand stoßen. Und ganz ehrlich: Wenn man einen ganz besonderen Tropfen, sagen wir: einen Wein, von dem man schon so viel gehört hat, aber an den man nie rankommt, oder einen Wein, den man liebt, den es aber selten gibt, angeboten bekommt – ist man dann verpflichtet, aus „Vorsicht“ abzulehnen, obwohl man gern ein, zwei, ja, von mir aus drei Gläser davon trinken wollen würde? Nur aus Vorsicht? Jein, also zumindest ich sehe das so kategorisch zu handlen nicht ein – das richtet den Blick mal wieder sehr auf die (potentiell) Betroffenen, anstatt den Blick auf die Täter_innen zu richten und schlussendlich auf die Strukturen, die erst ermöglichen, dass es zu solchen Übergriffen kommt. Anstatt also zu sagen “Naja, da hat er halt einen über den Durscht getrunken…” oder “Hättest halt aufgepasst, hättest halt nix mehr getrunken!” oder überhaupt nur betreten zu schweigen, müssen wir andere Wege finden.

Ross übt ordentlich Selbstkritik, wenn sie sagt, dass gerade in der “Naturwein”-Welt Freiheit und Genuss einen hohen Stellenwert haben – während gleichzeitig gerade diese “Werte” oftmals als “Entschuldigungen” für unangemessenes Verhalten dienen. Auch kreidet sie in ihrem Artikel Alice Feiring, die Grande Dame des Naturweins, an: Diese soll einer der Betroffenen, die sie um Rat und Unterstützung gebeten hat, dazu geraten zu haben, besser zu schweigen. Das hat mich, die ich gerade dabei bin, mit großer Begeisterung Feirings Bücher eines nach dem anderen zu verschlingen, einigermaßen schockiert. Glücklicherweise meldete sich Alice Feiring per Newsletter und per Instagram zu Wort, und erklärte, dasss ihr unendlich unangenehm sei, was sie damals gesagt habe, und es ihr sehr leid tue. Sie hätte empathischer reagieren sollen, habe aber zum damaligen Zeitpunkt aus ihrer eigenen persönlichen Erfahrung mit Übergriffen heraus geantwortet. Mangelnde Solidarität unter Frauen (und auch unter Betroffenen von Übergriffen!) ist natürlich nicht untypisch, ganz im Gegenteil – so funktioniert die patriarchale Hegemonie, oder in anderen Worten: Wenn wir Frauen und andere Nicht-Männer nicht auch irgendwie mitmachen würden, wäre das Patriarchat schon längst gestürzt. Einige Tage später setzte Alice Feiring noch nach und erklärte:

As someone who has been through everything from criminal sexual assault to serious harassment, and had mostly been silent (another generation, right?) I want women to shout the truth out, and powerfully so.”

Alice Feiring, 10.11.2019

Was jetzt?

Was helfen würde? Eine klare Haltung jedes und jeder Einzelnen, dass sexuelle Belästigung und sexuelle Übergriffe nicht toleriert werden, es sich dabei nicht um ein „Kavaliersdelikt“ handelt, und dass ein Fehlverhalten Konsequenzen nach sich zieht. Außerdem: Anerkennen, dass Gewalt gegen Frauen und sexuelle Übergriffe eine weltweite, grenzen- und branchenübergreifende Realität sind, darüber reden, das Thema ent-tabuisieren, uns aus der eigenen Schockstarre lösen. Betroffenen Raum geben, ihre Erfahrungen zu teilen, ihnen zuhören, und ihnen glauben. Unterstützung anbieten. Das eigene Verhalten scannen und gegebenenfalls ändern. Beobachten, wachsam sein und benennen. Dabei haben wir alle Verantwortung. In der Weinwelt genauso wie überall sonst.

I can’t believe I still have to say this in 2019, but we have to do better at talking publicly about sexual harassment and assault in the wine industry and beyond.” 

Marissa A. Ross, To Make the Wine Industry Less Toxic, We Need to Get Loud, ba magazine, 5.11.2019